In bäuerlichen Familien verkettet der Hof Job, Familie und Existenz unweigerlich miteinander. Eine komplexe Dynamik, die nicht immer alleine bewältigt werden kann. Muss sie auch nicht. Wem der Druck im Job zu viel wird, kann den Arbeitsplatz wechseln. Wer Streit ausgesetzt ist, geht auf Abstand. Nicht für jeden oder jede ist es so einfach. So etwa in bäuerlichen Familien: Auf dem Hof sind Job, Familie und Existenz unweigerlich miteinander verbunden. Das führt zu einer Dynamik, die nicht leicht zu bewältigen ist. Hilfe bietet die Lebensberatung für bäuerlichen Familien an.
Die Straßenzeitung zebra. hat mit der Koordinatorin der Anlaufstelle Nicole Irsara gesprochen.
Warum wurde 2009 die bäuerliche Lebensberatung ins Leben gerufen?
Nicole Irsara: In Südtirol wird eine Vielzahl an Beratungsleistungen angeboten. Es gibt die Betriebs- und Rechtsberatung sowie Beratungen zu den Themen Finanzierung und Förderungen. Doch hapert es oft an der Umsetzung. Wenn sich Betroffene an die genannten Stellen wandten, wurde mitunter festgestellt: „Es ist doch eigentlich alles geregelt.” Was jedoch oft fehlte, war eine Beratung auf menschlicher Ebene, damit eingeleitete Veränderungen wie die Hofübergabe auch in der Praxis funktionieren.
Wie kann man sich das vorstellen?
Die bäuerliche Lebensberatung ist eine Art seelische erste Hilfe für Familien, die vermehrt Druck ausgesetzt sind. Das Zusammenleben mehrerer Generationen am Hof ist oft beschwerlich und führt verstärkt zu Konflikten. Das Projekt der Lebensberatung hat sich in den Jahren bewährt und die Beratung wird von Freiwilligen durchgeführt. Es ist deshalb kostenlos und die Hilfeleistung erfolgt unkompliziert, niederschwellig und schnell.
Wer sind diese Freiwilligen?
Aktuell sprechen wir von 28 aktiven, ausgebildeten Freiwilligen in ganz Südtirol, fast ausschließlich Frauen. Im Juni kommen zehn weitere dazu. Die meisten Lebensberaterinnen sind selbst Bäuerinnen oder stammen von einem Hof. Das ist deshalb sehr hilfreich, weil sie mit den Dynamiken und Themen bäuerlicher Familien vertraut sind.
Inwiefern unterscheiden sich bäuerliche von nicht-bäuerlichen Familien?
Das Leben auf einem Hof ist ein ganz anderes. Arbeit und Familie sind untrennbar miteinander verknüpft. Dazu kommt das enge Zusammenleben von Jung und Alt. Es kommt leichter zu Reibereien. Auch der wirtschaftliche Druck für landwirtschaftliche Betriebe wird immer stärker, gleichzeitig sinkt das Ansehen der bäuerlichen Familien in der Gesellschaft. Das Leben am und mit einem Hof ist oft auch sehr einschränkend. Ein Bauer kann sich nicht einfach an einem Sonntag freinehmen, wenn er Vieh hat. Die Familie kann nicht zwei Wochen auf Urlaub fahren, wenn das Heu zu machen ist.
Wie hat sich das bäuerliche Leben in den letzten Jahren verändert?
Das Zusammenleben ist nicht mehr so einfach. Wobei wir im Grunde nicht wissen, ob es früher wirklich einfacher war. Heute werden gewisse Dinge angesprochen und nicht mehr einfach so hingenommen. Die junge Generation hinterfragt viel. Das ist auch richtig, nur für die Altbauern oft nicht so einfach. Wo sich der junge Bauer unverstanden fühlt, fühlt sich der ältere nicht wertgeschätzt und umgekehrt. Das Zusammenleben ist komplexer geworden und die Belastung nimmt zu.
Welche Belastungen kommen heute noch hinzu?
Viele Höfe sind auf Nebenerwerb angewiesen. Beides gut zu machen, ist nicht einfach. Und dann sind da noch die Digitalisierung und Verbürokratisierung. Man merkt, dass die Landwirtinnen und Landwirte an ihre Grenzen gelangen, weil sie überfordert sind. Leider ist Scheitern in Südtirol immer noch ein Tabu, dabei ist Irren ja menschlich. Auch die Einsamkeit ist ein Thema. Das klassische Bild einer bäuerlichen Familie ist das einer Großfamilie.
Wie kommt es zu Einsamkeit?
Wenn ein Bauer keine Partnerin findet, kann das Leben am Hof sehr einsam werden. Mit Corona wurde das noch spürbarer. Ein alleinstehender Bauer, der vor der Pandemie in Vereinen Gesellschaft und Ausgleich fand, geriet in dieser Zeit vermehrt ins Grübeln. Zuletzt stieg auch der finanzielle Druck. Als der Nebenerwerb coronabedingt wegfiel, häuften sich Schulden an, was wiederum zu Existenz- und Zukunftsängsten führte. Die Frage „Wie wird es weiter gehen?” macht Angst, vor allem wenn man sie sich alleine stellen muss.
Familienangelegenheiten sind etwas sehr Privates, das tragen die meisten nicht gerne nach außen.
Ja, deshalb ist die Schweigepflicht bei uns oberstes Gebot. Wichtig ist uns außerdem, dass Ratsuchende und Beratende nicht aus demselben Bezirk kommen. Die Parteien sollen sich nicht kennen, damit es keiner und keinem Beteiligten aus irgendeinem Grund unangenehm ist.
Was sind die häufigsten Probleme und wer sucht eher Unterstützung, Alt- oder Jungbäuer*innen?
Es hält sich die Waage. Alt- oder Jungbauern melden sich gleichermaßen. Die Probleme sind ganz unterschiedlich, betreffen aber meist das Zusammenleben und die Nachfolge. Erstere rufen an, weil sie etwa mit der Schwiegertochter nicht auskommen. Letztere geraten hingegen an ihre Grenzen, weil die Eltern darauf beharren, die Dinge so weiterzumachen wie bisher.
Die Hofübergabe ist ein heikles Thema. Was macht das mit den Familien?
Meistens regeln die Familien die Frage der Hofübergabe ganz gut. Aber Eltern tun sich schwer, weil sie ihre Kinder im Grunde ungerecht behandeln „müssen”. Der eine bekommt mehr, die andere weniger. Die Weichenden können nie gerecht ausgezahlt werden. Gleichzeitig ist es schwer, loszulassen. Wer auf einem Hof aufwächst, ist mit Grund und Boden verwurzelt. Da sagt man nicht einfach „Ich ziehe von daheim aus”. Im Gegenzug bekommt der*die Hofübernehmer*in zwar den gesamten Hof, aber auch die gesamte Verantwortung und Last des Familienschatzes auferlegt.
Welche Hilfe bekommen die Familien dann von der Lebensberatung?
Wenn sich Betroffene an uns wenden, wird eine ehrenamtliche Lebensberaterin zugewiesen, die zeitnah Kontakt aufnimmt und zu einem persönlichen Erstgespräch an den Hof oder – wenn ein neutraler Ort gewünscht ist – in ein Bezirksbüro des Bauernbundes kommt. Bei diesen Familiengesprächen bringen wir alle an einen Tisch und legen die Gesprächsregeln fest. Das Ziel ist eine offene Kommunikation. Oftmals sagen die Familienmitglieder dabei zum ersten Mal was sie wirklich empfinden.
Wie kann eine Lösung aussehen?
Die Lösung ist von Fall zu Fall unterschiedlich und muss gemeinsam gefunden werden. Im Grunde ist es meistens ein Problem der Kommunikation und der Organisation. Das klingt vielleicht komisch im familiären Kontext, aber es braucht eine klare Aussprache darüber, wer in der Position ist, Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu tragen. Was auch oft fehlt, sind regelmäßige Besprechungen, bei denen strategisch geplant wird, wer wann was operativ macht.
Findet sich immer eine Lösung?
Veränderung ist meist etwas Schmerzhaftes und man weiß nie, wie es ausgeht. Aber wenn der Wille da ist, findet sich eine Lösung – oder zumindest ein Kompromiss. Oft rufen Leute an und äußern ihre Zweifel darüber, ob die Gegenseite überhaupt zu einem Gespräch bereit ist. Am Ende klappt es aber in den meisten Fällen doch. Ein besonders schönes Kompliment bekamen wir zuletzt von einer Jungbäuerin, die wir über mehrere Jahre begleitet hatten. Sie kämpfte damit, sich in der neuen Familie, in die sie eingeheiratet hatte, zu behaupten. Ihr Mann musste lernen, die Situation mit seiner Ursprungsfamilie zu regeln und seiner neuen Familie Raum zu verschaffen. „Wenn es die Lebensberatung nicht gegeben hätte, wäre ich wohl nicht mehr am Hof”, hat uns die Frau gesagt.
Gibt es derzeit viele Anfragen?
Ja, vor allem seit Jänner. Da hat ein sehr bekannter Bauer im Pustertal Suizid begangen. Oft führen derlei Geschehnisse dazu, dass Menschen, die erst noch zögerten, sich Hilfe holen. Auch das Interview eines Schweizer Bauern, das auf RAI Südtirol ausgestrahlt wurde, schlug Wellen. Daraufhin haben sich viele gemeldet, die mit ihrer Situation überfordert sind. Zu sehen, dass andere Ähnliches durchmachen, macht Mut und hilft dabei, auch selbst Schwächen einzugestehen und sich Hilfe zu holen.
Wie schnell kann man mit eurer Unterstützung rechnen?
Wir haben keine Wartelisten und stellen schnell und unkompliziert Kontakt zu unseren Beraterinnen her. Einmal trat ein suizidgefährdeter Bauer an uns heran. Da musste es natürlich schnell gehen. Er hatte an einem Montag angerufen und am Mittwoch war bereits jemand bei ihm. Heute geht es ihm wieder gut.
Wann sollte man sich an euch wenden?
Konflikte und Schwierigkeiten gehören zum Leben dazu. Dafür braucht sich niemand schämen. Optimal wäre es, sich schon vor anstehenden Veränderungen wie der Hofübergabe eine Beraterin ins Haus zu holen. Das ist nicht die Regel, denn die Hemmschwelle ist groß und viele meinen, es alleine schaffen zu müssen. Aber es ist hilfreich von Anfang an jemanden begleitend an der Seite zu haben. Ein kleines Feuer ist leichter gelöscht als ein größeres.
Interview: Daniela Halbwidl
Dieser Text ist erstmals in der neuen Ausgabe der Straßenzeitung zebra. (11.04.2022 – 09.05.2022|74) erschienen. veröffentlicht am 12. April 2022 Straßenzeitung zebra. Beim Zebrastreifen am Bahnhof, vor der Bäckerei, neben dem Dom – die VerkäuferInnen der Organisation für eine solidarische Welt bringen zebra. druckfrisch unter die Leute. Sie sind an ihren Ausweisen gut erkennbar und verkaufen die Straßenzeitung für drei Euro. Die Hälfte davon geht in die Produktion, die anderen 1,50 Euro bleibt dem/der VerkäuferIn. Pro Ausgabe wird ein zebra-Artikel auf BARFUSS veröffentlicht – zum Reinschnuppern ins neue Heft.